Grundlagen der Anatomie

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Die Augen, der "Gesichtssinn", zählen zu den wichtigsten Sinnesorganen des menschlichen Organismus. Sie liefern uns ein ständig aktualisiertes Bild der Umwelt. Die folgenden Erläuterungen beziehen sich auf ein rechtes Auge. Der Augapfel (lat. bulbus oculi, kurz bulbus, ø ca. 24 mm, annähernd kugelförmig lt. [Pschyrembel, 1994]) liegt geschützt in der Augenhöhle (Orbita), welche eine Vertiefung im Schädel darstellt. Der Bulbus ist zwiebelschalenartig aus drei Schichten aufgebaut [Schäffler und Schmidt, 1998]:

 

sklera (Lederhaut): äußere Augenhaut,

choroidea (Aderhaut): mittlere Augenhaut,

retina (Netzhaut): innere Augenhaut.

 

Für die Bewegung des Bulbus sind die sechs extraokulären Augenmuskeln verantwortlich. Die vier geraden Augenmuskeln (musculi recti) und die beiden schrägen Augenmuskeln (musculi obliqui) entspringen in der Augenhöhle und setzen an der Lederhaut des Augapfels an. Die Abbildung zeigt den Ursprung der Muskeln in der Orbita und den Ansatz (Insertion) auf dem Bulbus. Jeder Augenmuskel wirkt auf den Augapfel in drei Komponenten ein, wobei durch einen bestimmten Muskelverlauf die Hauptwirkungsrichtung bestimmt ist. Die Hauptwirkung jedes Muskels lässt sich schon aus der Bezeichnung ableiten [Brugger, 2000].

 

musculus rectus superior (oberer gerader Augenmuskel): nach oben,

musculus rectus inferior (unterer gerader Augenmuskel): nach unten,

musculus rectus lateralis (äußerer gerader Augenmuskel): seitwärts nach außen,

musculus rectus medialis (innerer gerader Augenmuskel): seitwärts nach innen,

musculus obliquus superior (oberer schräger Augenmuskel): nach unten und Rollung nach innen,

musculus obliquus inferior (unterer schräger Augenmuskel): nach oben und Rollung nach außen.

 

Blick von oben auf das rechte Auge

 

Die rechtwinklig zueinander angeordneten geraden Muskelpaare entspringen in der Spitze der Orbita. Ihre Endsehnen vereinigen sich beim anatomischen Ursprung zu einer ringförmigen Sehnenplatte (Zinn'scher Ring) und ihre Insertionen liegen vor der Äquatorialebene des Bulbus (vgl. [Günther, 1986]). Im Gegensatz dazu setzen die musculi obliqui hinter dem Bulbusäquator an und ziehen schräg nach vorne. Der m. obliquus superior ist der längste aller Augenmuskeln. Ausgehend von seinem Ursprung nahe am Zinn'schen Ring läuft er oberhalb des Bulbus in Richtung des nasalen Stirnbeins, seine Sehne durchzieht eine knorpelige Rolle (die Trochlea) und verläuft von hier aus direkt zu seiner Insertion. Der m. obliquus inferior entspringt am nasalen Rand des knöchernen Orbitabodens, läuft unterhalb des Bulbus um den m. rect. inferior herum und setzt im hinteren Bereich des Augapfels an. Im Bereich der Überkreuzung des m. obliquus inferior und m. rect. inferior verdichtet sich der untere Halteapparat des Auges in einer sehnigen Verbindung zwischen den beiden Muskeln zum ligamentum lockwood [Günther, 1986].

 

Jeder Augenmuskel besteht neben dem rein muskulären Anteil auch aus einem sehnigen Anteil. Die Sehnen stellen die Verbindung des Muskels zum Ursprung auf der einen Seite, bzw. zum Insertionspunkt auf der anderen Seite her. Die Gesamtlänge (Muskel und Sehne) der Augenmuskeln ist sehr unterschiedlich. Die größten Unterschiede weisen dabei die Längen der Sehnen auf (vgl. [Kaufmann, 1995]). Der m. obliquus inferior weist mit 0 bis 2 mm die kürzeste und der m. obliquus superior mit 25 bis 32 mm die längste Sehne auf. Die eigentliche Muskellänge (ohne Sehne) liegt zwischen 30 mm (bei den mm. obliqui) bis 39 mm (beim m. rect. inferior). Durch die Lage des Insertionspunktes vor bzw. hinter dem Bulbusäquator verläuft jeder Muskel zum Teil auf der Bulbusoberfläche. Erst beim Tangentialpunkt endet der Kontakt zum Bulbus und der Muskel zieht in Richtung seines Ursprungs (vgl. Abb.). Bei jeder Bewegung des Bulbus ändert sich auch die Lage der Insertionspunkte relativ zur Orbita.

 

Könnten sich die einzelnen Muskeln zwischen Insertionspunkt und Ursprung bei einer Augenbewegung frei bewegen (Hypothese des Fadenmodells), hätte dies speziell in einer Tertiärposition eine Verschiebung der Muskeln auf der Bulbusoberfläche zur Folge. Dadurch würde sich der Muskelpfad und somit die Wirkungsrichtung maßgeblich mit der Augenposition verändern (Verlust der Hauptwirkung). Um dies zu verhindern, umgibt eine bindegewebsartige Hülle den Bulbus und stabilisiert die Muskeln im Bereich des Tangentialpunktes. Diese Stabilisatoren werden Pulleys genannt (vgl. [Buchberger und Mayr, 2000], [Miller und Demer, 1996]).

 

Schematische Darstellung eines geraden Augenmuskels mit Ursprung, Tangential- und Insertionspunkt

 

Die Bewegung des Bulbus entspricht annähernd einer Rotation eines Objektes im dreidimensionalen Raum um eine bestimmte Achse. Der Bulbusmittelpunkt kann dabei als Rotationszentrum gesehen werden. Die Blicklinie ist ein Vektor vom Bulbusmittelpunkt durch die Mitte der Pupille. Normal dazu liegen die Vertikal- und die Horizontalachse, wobei der Schnittpunkt dieser drei Achsen im Bulbusmittelpunkt liegt (vgl. Abb.). Die Medizin unterscheidet grundsätzlich drei Augenpositionen (vgl. [Kaufmann, 1995]):

 

Primärposition: Das Auge blickt bei fixiertem Kopf geradeaus ins "Unendliche". Es wird angenommen, dass in dieser Position alle Muskeln am wenigsten gespannt sind (Ruhetonus). Aus dieser Lage sind alle anderen Blickpositionen mit möglichst geringem Energieaufwand erreichbar.

 

Sekundärposition: Ausgehend von der Primärposition erfolgt eine Rotation um die horizontale oder vertikale Achse (Abb. b). Das Auge blickt nach links oder rechts bzw. nach oben oder unten.

 

Tertiärposition: Ausgehend von der Primärposition erfolgt eine Rotation um die horizontale und vertikale Achse (Abb. c). Das Auge blickt z. B. nach links oben oder nach rechts unten. Die Kombination um zwei Achsen kann auch durch eine Rotationsachse dargestellt werden, die in der durch horizontale und vertikale Achse aufgespannten Ebene liegt (Abb. d).

 

 

Blicklinie, Vertikal- und Horizontalachse; Rotationen zu anderen Blickpositionen

 

Beide Augen können nur in binokularer Gemeinschaft miteinander bewegt werden, das heißt die Bewegung nur eines Auges ist in der Regel nicht möglich (vgl. [Günther, 1986]). Die Augenmuskeln sind in der Lage, das Auge sehr schnell und punktgenau zu positionieren. Darüber hinaus kann das Auge ohne Ermüdung in einer bestimmten Stellung gehalten werden.

Die Rotation eines Auges um eine bestimmte Achse ergibt eine bestimmte Blickposition und somit auch eine bestimmte Blickrichtung. Die Blickrichtung bezeichnet die Orientierung des Auges, wobei die Blickposition immer mit einem Fixieren der Sehstrahlen auf einen Gegenstand einhergehen soll.

Wie schon erwähnt besitzt jeder Muskel einen Ursprungs-, Tangential- und Insertionspunkt. Die Muskelpfade vom Ursprung bis zur Insertion am Bulbus werden aber zusätzlich von einem bindegewebigen Muskelscheiden- und Halteapparat, so genannten "Pulleys" (Umlenkrollen), beeinflusst.

Die folgende Abbildung zeigt eine schematische Darstellung dieser anatomischen Elemente:

 

Repräsentation des orbitalen Bindegewebes

 

Ein "Pulley" umschließt einen Muskel als ringartiges Gebilde und ist verbunden mit der Orbitawand (retinacula) und anderen bindegewebsartigen Strukturen (Intermuscularmembranen). Glatte Muskulatur und Nerven sind in diesen Apparat eingestreut. Sehne und Muskel ziehen durch diese "Pulleys", wobei die "Pulleys" selbst relativ zum Bulbusäquator fixiert bleiben.

 

Anatomischer Einfluss von Pulleys auf Augenbewegungen

Vor der Entdeckung von Pulleys als funktionelle Elemente (1995) beruhten alle Modelle auf der Vorstellung, dass der anatomische Ursprung eines Augenmuskels auch gleichzeitig der funktionelle Ursprung sei. Dies führte wiederum zu der Annahme, dass die Rotationsachse, um die ein Muskel den Bulbus rotiert, normal auf die Ebene beschrieben durch Tangentialpunkt, Rotationszentrum und anatomischen Ursprung steht. Mit der Entdeckung von Pulleys als funktionelle Elemente war diese Definition der Rotationsachse nicht mehr haltbar. Entsprechend dem Pulleymodell muss demnach der funktionelle Ursprung mit der Position des Pulleys zusammenfallen, da ja der Muskel an dieser Stelle durch den Halteapparat seine Zugrichtung ändert. Dies führt auch zu einer Neudefinition der Rotationsachse eines Muskels, die normal auf einer Ebene steht, die durch die Pulleyposition, den Tangentialpunkt und das Rotationszentrum gebildet wird. Das Bändermodell von Robinson (1975) sowie das so genannte verschärfte Bändermodell nach Kusel und Haase (1977) versuchten bereits die Einwirkung von Pulleys durch eine winkelreduzierende Komponente für jeden Muskel zu berücksichtigen. Im Gegensatz dazu stehen neuere Modelle wie Orbit™, Eyelab und SEE-KID, die von vornherein schon Pulleys als anatomische Komponenten einbeziehen und somit auch bessere, der Klinik entsprechende, Ergebnisse liefern.

 

Unterschied von Konventionellen Modellen (oben) und Modellen mit Pulleys (unten)

 

Die Entdeckung von Pulleys als funktionelle Elemente erklärte, warum alle anderen Modelle vorher in den Vergleichen mit realen Daten weniger erfolgreich waren. Auch die Programmierung der Simulation von Operationsmethoden musste an diese neuen Erkenntnisse adaptiert werden.

Global Layer und Orbital Layer des m. rectus superior und m. rectus inferior

 

Bereits frühere Studien an Säugetieren legten nahe, dass die äußeren Augenmuskeln aus zwei unterschiedlichen Schichten bestehen. Wie in der Abbildung zu sehen ist, zieht die bulbäre Schicht durchgehend vom Ursprung am Zinn'schen Ring bis zur sehnigen Insertion. Im Gegensatz dazu endet die orbitale Schicht etwas hinter der Insertion.

Verschiedene Studien von [Demer et. al., 2000] und [Clark et. al., 2000] haben gezeigt, dass diese beiden Schichten jeweils unterschiedliche Aufgaben übernehmen. Während der Global Layer primär für die Bewegung des Auges in eine bestimmte Blickposition verantwortlich ist und sich bis zur Insertion erstreckt, endet der Orbital Layer im Bereich der Pulleys und bewegt diese aktiv beim Blick in eine sekundäre bzw. tertiäre Position. Durch die verschiedenen Studien konnte demonstriert werden, dass sich die Pulleyposition bei der Kontraktion des Augenmuskels nach hinten und bei Relaxation (Entspannung) nach vorne bewegt. Diese Entdeckung führte zur Formulierung der "Active-Pulley-Hypothese", welche im SEE++ System in Form des Active-Pulley Modells erstmals in einem Simulationssystem umgesetzt wurde.