Vorwort

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Zunehmende Automatisierung in allen Bereichen unseres Alltages macht den Einsatz von Softwaresystemen für Verwaltung und Dienstleistungen unerlässlich. Auch vom Gesundheitswesen wird seit einigen Jahren diese Entwicklung mitgetragen. Die Einführung einer Chipkarte als Ersatz für Krankenschein und Patientendaten und die zahlreichen Neuerungen in der EDV-gestützten Krankenhausverwaltung bilden die Basis für einen effizienten und kostenminimierenden Verwaltungsapparat.

 

Die rasante Entwicklung von Rechnersystemen ermöglicht auch zunehmend den Einsatz von Softwaresystemen im medizinischen Bereich. Leistungsfähige Computer für Bildverarbeitung und 3D-Grafik in Kombination mit speziell entwickelten Systemen bieten schon heute eine sinnvolle Ergänzung z.B. in der medizinischen Diagnostik. Ein wesentliches Kriterium für den Einsatz solcher Systeme in der Praxis ist die Zuverlässigkeit und die möglichst interpretationsfreie, echtheitsgetreue Darstellung von medizinisch relevanten Daten bzw. Ergebnissen. Denkt man beispielsweise an den Einsatz von virtueller Realität im Zusammenhang mit chirurgischen Eingriffen, so wird der Erfolg einer Operation wesentlich durch die aus einem solchen System gewonnenen Daten beeinflusst. Durch ausgereifte grafische Visualisierung kann der Chirurg präoperativ ein Krankheitsbild simulieren und danach durch interaktives "virtuelles Operieren" den Ablauf der späteren (echten) Operation planen, kontrollieren und eventuell sogar korrigieren. So kann er auf die Qualität und Effizienz des Eingriffs direkt einwirken.

 

Durch den in den letzten Jahren stetig steigenden Bedarf an solchen Systemen beschäftigt sich ein wesentliches Forschungsgebiet im Umfeld der Computerwissenschaften mit der "korrekten" Modellierung eines "virtuellen" Menschen. Dabei ist das Ziel, die Anatomie des menschlichen Körpers auf eine möglichst realistische Weise darzustellen, indem man beispielsweise bereits aus der Mechanik bekannte Gesetzmäßigkeiten auf die Anatomie des menschlichen Körpers anzuwenden versucht. Komplexe mathematische Modelle von Skelett, Muskeln, Gelenken und deren grafische, dreidimensionale Visualisierung bilden die Basis für die Umsetzung eines interaktiven Systems. Das Ergebnis ist ein biomechanisches Modell des menschlichen Körpers, welches wiederum in Forschung und Lehre Anwendung findet. Durch das systematische Studieren solcher Modelle, lassen sich neue Erkenntnisse ableiten, die, wiederum in das Modell integriert, eine vertiefende Forschung ermöglichen und gleichzeitig das Modell perfektionieren.

 

Das Projekt SEE-KID (Software Engineering Environment for Knowledge-based Interactive Eye motility Diagnostics) versucht die Aspekte der biomechanischen Modellierung mit Methoden der modernen Softwareentwicklung zu verbinden. Dieses Projekt basiert in großen Teilen auf dem Softwaresystem Orbit™ (weitere Informationen unter www.eidactics.com) und auf anderer biomechanischer Software. Es versucht jedoch gleichzeitig die bekannte Funktionalität zu erweitern und verschiedene Modellierungsaspekte in einem Computerprogramm zu vereinen.

 

Wir sehen SEE++ als Ersatz oder Erweiterung von Orbit™ mit einer höheren klinischen Relevanz bei gleichzeitiger äquivalenter Unterstützung der wesentlichen Funktionen, die auch Orbit™ angeboten hat. Das SEE++ Softwaresystem differenziert zwischen dem biomechanischen Modell und der Benutzeroberfläche und bietet dadurch eine offene, flexible und portable Basis für zukünftige Erweiterungen. Des weiteren wurden das SEE-KID und das SEE-KID Active Pulley Modell so entwickelt, dass auch neueste anatomische und physiologische Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung auf einfache Art und Weise integriert werden können. Im Vergleich zu Orbit™ verwenden diese Modelle außerdem einen anderen mathematischen Ansatz für die numerische Optimierung, der eine wesentlich zuverlässigere Lösung von nicht-linearen Problemen erlaubt. Die effiziente und zuverlässige Lösung von solchen Optimierungsproblemen stellt eine der wesentlichen Aufgaben für die Simulation von komplexen mechanischen Systemen wie dem menschlichen Auge dar.

 

Der direkte Partner des SEE-KID Projektes, die Sehschule des Konventhospitals der Barmherzigen Brüder in Linz, hat sich darauf spezialisiert, angeborene und erworbene Fehlstellungen der Augen (Motilitätsstörungen, Schielen mit oder ohne Nystagmus) speziell bei Kleinkindern operativ zu beheben, durch z.B. Verkürzung oder Verlagerung eines oder mehrerer Augenmuskeln. Die meisten dieser Operationen an den Augenmuskeln müssen im Vorschulalter durchgeführt werden. Um eine dauerhafte Fehlbildung des muskulär-bindegewebigen Apparats und eine daraus resultierende sensorische Anpassung zu vermeiden, müssen Kinder in Einzelfällen (z.B. Fibrose-Syndrom) schon früh in den ersten Lebensjahren operiert werden. Voraussetzung ist eine Früherfassung mit Vorbehandlung, z.B. durch Okkludieren (Verkleben des besseren Auges zur Förderung des sehschwächeren Auges).

 

Für den Erfolg einer Augenmuskeloperation ist einerseits ein Verständnis des zu Grunde liegenden Krankheitsmechanismus, aber auch ein Verständnis der zu Grunde liegenden anatomisch funktionellen Mechanismen notwendig. Nur damit können falsche Operationen und damit operative Fehlkorrekturen vermieden werden.

 

Solche modellunterstützte Augenmuskeloperationen werden am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Linz seit 1978 durchgeführt. Dadurch wurde es auch möglich, neue Operationstechniken zu entwickeln.

 

Besonders komplizierte Operationen müssen im Vorfeld detailliert geplant und geeignete Operationsschritte ausgewählt werden. Der Ablauf einer Operation konnte bislang nur direkt am Patienten durchgeführt und perfektioniert werden. Bei besonders komplizierten Augenfehlstellungen ist selbst der erfahrene Experte auf übermittelte und eigene dokumentierte Erfahrungswerte angewiesen. Mehrfachoperationen sind daher oft notwendig.

 

Das Ergebnis unseres Projektes ist ein Softwaresystem (SEE++), das es dem Mediziner ermöglicht, eine pathologische Augenfehlstellung am Computer an Hand von Messungen am Patienten nachzustellen und an diesem Modell fast alle in der Praxis möglichen chirurgischen Eingriffe interaktiv zu simulieren. Es erlaubt ihm, sofort durch Darstellung von Messpunkten, Drehmomentlinien (Summe der Orientierungspunkte gleicher Drehmomente), Ursprungs- und Ansatzverhältnissen auf der Augenoberfläche bzw. der Orbita ("funktionelle Topographie"), Fehlfunktionen als Abweichungen von idealen Ansatz-, Ursprungs- und Streckenänderungen zu interpretieren. Dadurch kann der Chirurg den für den Patienten optimalen Eingriff bestimmen und dessen Vorgehensweise detailliert planen.

 

Die simulierten Eingriffe werden am Computer dreidimensional grafisch und in Mess-Skalen zum Vergleich mit klinischen Messparametern dargestellt und auf Plausibilität geprüft. Außerdem werden dem Chirurgen oben geschilderte Anhaltspunkte und Messwerte zur Verfügung gestellt, an Hand derer die konkrete Positionsbestimmung während des operativen Eingriffs am Auge des realen Patienten ermöglicht wird.